
Nach Ereignissen wie dem Amoklauf in Graz stehen Kriseninterventionsteams Betroffenen zur Seite. Cornel Binder-Krieglstein, Chefpsychologe vom Roten Kreuz, erklärt, was darüber hinaus hilft.

Die Betroffenheit ist nach dem Amoklauf in Graz groß. Und in vielen Fällen auch die Unsicherheit im Umgang mit jenen Menschen, die von der Tat betroffen sind: Wie viel Mitgefühl ist gut – und wann wird es zu viel?
Cornel Binder-Krieglstein ist Chefpsychologe beim Roten Kreuz und aktuell im Dauereinsatz. Er erklärt, wie man Betroffenen jetzt zur Seite stehen kann, wie man weiß, wann man sich selbst Hilfe suchen sollte – und was ihm mit Blick auf die Weltlage dennoch Hoffnung gibt.
Ein Standard Interview zur aktuellen Lage in Graz.

STANDARD: Was ist für Betroffene in den ersten Stunden nach einem so schrecklichen Ereignis entscheidend?
Binder-Krieglstein: Man kann drei Phasen unterscheiden. Die erste ist, dass zuerst die körperliche Sicherheit hergestellt wird, also dass es durch die Exekutive einen sicheren Raum gibt, wo man sich zurückziehen kann. Die zweite ist die ärztliche Versorgung. Und der dritte Punkt ist die psychische Betreuung, da kommt dann die Krisenintervention ins Spiel.
STANDARD: Was macht man in der Krisenintervention?
Binder-Krieglstein: In den ersten Minuten geht es darum, die Personen zu stabilisieren. Das bedeutet also, dass ich ein Vis-à-vis bin, von dem der Betroffene das Gefühl hat, ich kenne mich mit solchen Situationen aus, ich halte solche Situationen aus, und ich kann ihnen einen stabilen emotionalen Rahmen bieten. Das klingt jetzt ein bisschen trivial, ist aber für die Menschen in einer psychischen Ausnahmesituation nach einer potenziell traumatisierenden Situation ein ganz entscheidender Punkt. Dadurch erreicht man eine Stabilisierung. Im zweiten Schritt geht es darum, die Bedürfnisse zu erkennen. Wenn jemand erschüttert oder durcheinander ist, braucht man eine recht gute Übung, um mit ihm zu erarbeiten, was er emotional braucht. Das kann ganz unterschiedlich sein.


STANDARD: Können Sie da ein Beispiel nennen?
Binder-Krieglstein: Zum Beispiel sagt jemand, er möchte einen nahen Angehörigen verständigen. Das kommt sehr oft vor und klingt sehr einfach – aber wenn die Telefonnummer nicht da ist oder das Handy nicht verfügbar ist, wird das sofort zu einer organisatorischen Herausforderung. Oder jemand sagt, er möchte unbedingt einen Bekannten oder Verwandten suchen, der vielleicht auch betroffen war. Oder er möchte in einem ruhigen Raum ungestört alleine sein – auch das kann in so einem komplexen Schadensereignis schwierig zu finden sein.
STANDARD: Welchen Unterschied macht es, wenn man nach so einem dramatischen Erlebnis von Anfang an professionell betreut wird?
Binder-Krieglstein: Wir unterscheiden in der Krisenintervention die Anfangsphase, da sind die Punkte inklusive der sozialen und menschlichen Zuwendung im Vordergrund – dass jemand da ist, schnell verfügbar ist, stabilisiert und weitere Schritte klärt. Im zweiten Schritt ist es für uns wichtig, dass eine psychosoziale Fachkraft sich mit diesem Menschen anschaut, was für eine psychische Reaktion er auf diesen Vorfall zeigt. Da sieht man sich an, ob das produktive Strategien und Verarbeitungsmechanismen oder ungeeignete, destruktive, pathologische Strukturen sind. Dann würde man hier unterstützend korrigierend eingreifen.
STANDARD: Was wären solche destruktiven, pathologischen Mechanismen?
Binder-Krieglstein: Zum Beispiel aggressives Handeln, das gegen einen selbst oder andere gerichtet ist. Wenn eine Person, eine Institution oder eine Situation angeprangert wird. Oder wenn es um Selbstmedikation mit Medikamenten, anderen Substanzen oder Alkohol geht – wenn das zu einer Interventionstechnik wird und man sich damit betäubt, um besser durchzukommen, dann wissen wir aus der Wissenschaft, dass das auf mittel- und langfristige Sicht wahrscheinlich negativ wirkt.
STANDARD: Gibt es klassische Phasen in den ersten Stunden, oder ist das individuell?
Binder-Krieglstein: Eine Mischung. Es kommt sehr auf den Persönlichkeitstypus an. Ist das jemand, der eher rational organisiert ist und sagt, für mich sind Fakten, ein Plan und Orientierung wichtig? Oder ist das jemand, wo die Emotionalität im Vordergrund steht? Für diese beiden Personen wird die zweite Intervention am Tag danach anders ausschauen. Am Anfang kriegen wahrscheinlich alle das Gleiche: Stabilisierung, Orientierung, Sicherheit, nächste Schritte planen. Außerdem muss man schauen, welche psychische Stabilität diese Person überhaupt mitbringt. Wegen alldem ist die Fachlichkeit wichtig, dass man das unterscheiden und unterschiedliche Interventionsformen planen kann.
STANDARD: Das heißt, jedem und jeder Betroffenen müsste dann für die kommenden Tage und Wochen ein Profi zur Seite gestellt werden.
Binder-Krieglstein: Wir wissen aus der Erfahrung, dass ungefähr ein Drittel der Personen da relativ gut ohne weitere Unterstützung durchkommen kann. Wir wissen, dass es ein zweites Drittel gibt, das eher emotional-soziale Unterstützung aus dem Umfeld braucht. Und dass es ein drittes Drittel gibt, das tatsächlich fachliche Unterstützung braucht. Man kann nicht vorhersehen, in welchem Drittel man drin ist.
STANDARD: Es gibt sehr viele Menschen, die nun sehr betroffen sind, ohne direkt involviert gewesen zu sein. Wie können die beurteilen, ob man in Richtung professioneller Hilfe gehen sollte?
Binder-Krieglstein: Worauf man sich grundsätzlich verlassen kann, ist das Bauchgefühl. Hören Sie in sich hinein: Was wäre Ihnen jetzt am angenehmsten? Dass Sie sich in einen Ruhebereich zurückziehen? Ein Buch lesen? Oder wollen Sie Sozialkontakte, möchten zu einem Treffen von Betroffenen gehen? Ich möchte vor der Strategie warnen, die ein bisschen in der Bevölkerung herumgeistert: "Der Reiter, der vom Pferd gestürzt ist, muss unbedingt sofort wieder aufsteigen." Weder muss, noch unbedingt – hören Sie auf Ihr Bauchgefühl. Das Zweite ist: Es gibt die drei großen Bereiche Arbeitsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit und Lebensfähigkeit. Wenn in einem oder mehreren dieser Bereiche nach diesem Ereignis eine Beeinträchtigung stattfindet, die es vorher nicht gegeben hat – Stichwort Verhaltensveränderung –, dann wäre das ein Signal zu sagen, ich hole mir eine Fachkraft.
STANDARD: Menschen ticken in solchen Situationen sehr unterschiedlich. Die einen werden zu News-Junkies, andere probieren es mit News-Avoidance und wollen eigentlich gar nichts mehr wissen. Ist das wieder eine Typfrage?
Binder-Krieglstein: Ja, weil da unterschiedliche Bewältigungsstrategien dahinterstehen. Darum würde ich nie Druck ausüben, das eine oder das andere machen zu müssen. Man sollte schon achtgeben, nicht wahllos und ungezügelt Informationen zu sammeln, weil es dann einen Overload geben könnte. Das ist der eigenen Strategie nicht mehr dienlich, sondern führt möglicherweise zu einer Belastung – noch dazu, wenn es sich auch um ungesicherte, unseriöse oder Fehlinformationen handelt.


STANDARD: Was kann man tun, wenn man jemanden kennt, der direkt betroffen ist?
Binder-Krieglstein: Ich würde als Freund, Nachbar oder Angehöriger möglichst versuchen, die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien zu unterstützen. Hilfe durchwegs offensiv anzubieten, zu sagen: Du, ich habe gehört, du warst dabei – stimmt das? Wie gehst du damit um? Gibt es einen Punkt, wo ich unterstützen kann? Möchtest du dich ablenken? Dann machen wir so was. Möchtest du lieber darüber sprechen, vielleicht zehnmal das Gleiche? Dann steh ich dafür zur Verfügung. Möchtest du vielleicht eine Hotline oder eine Fachkraft anrufen? Ich helfe dir bei der Suche.
STANDARD: Betroffene berichten mitunter von einer erdrückenden Welle der Hilfsbereitschaft. Muss man aufpassen und ein Gefühl haben, ob jemand überhaupt will, dass ich mich bei ihm melde?
Binder-Krieglstein: Richtig, es ist immer die Frage: Kann ich etwas für dich tun, und willst du das? Man bietet das an wie auf einem kleinen Tablett, da hat man die Dinge draufstehen. Ob der andere das herunternimmt und annehmen kann oder nicht, das bleibt dessen Entscheidung. Ich sollte darauf achten, das in einer Form anzubieten, wo ich auf den anderen keinen Druck ausübe. Er kann entscheiden, ob er das runternimmt – heute, morgen oder gar nicht. Bin ich unsicher, wie derjenige das haben möchte, dann werde ich ihn das fragen. Das ist dann zu akzeptieren und auszuhalten, auch wenn er sagt: Danke, ich brauch nix.
STANDARD: Was hilft denn gegen das Gefühl, dass die Welt gerade einfach nur schlecht ist?
Binder-Krieglstein: Ich bin immer sehr begeistert von der kollektiven sozialen Institution namens Gruppe. Das sind wir als kleine Gruppe, das ist man als Mikrogruppe in der betroffenen Einheit, das ist man als Graz, das ist man als Österreich, das ist man auch weltweit. Soziale Gruppen sind in der Regel sehr kompetent und gegenüber einander sehr supportiv. Man kann sich darauf verlassen, dass die Gruppe als Gesellschaft zusammenhält – mit kleinen Nachbarschaftstätigkeiten, einem gemeinsamen Ritual wie einem Gottesdienst oder Kerzenaufstellen. Auch Passanten merken diesen Zusammenhalt, diese Stimmung in diesem Gebiet. Das sind Dinge, die sehr wertvoll sind, und man spürt, dass die Gruppe wirklich zusammensteht. Die Betroffenheit ist ein Zeichen dafür, dass man mitfühlt.

Cornel Binder-Krieglstein ist klinischer Psychologe, Leiter der Notfallpsychologie beim Verband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) sowie Chefpsychologe beim Roten Kreuz.
Das Interview führten:
Für den Standard - Martin Schauhuber Franziska Zoidl
14. Juni 2025

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Kommentare
Mein tiefstes Mitgefühl an alle Angehörigen, und viel Kraft in dieser schweren Zeit 🕯️
Schrecklich war das- Viel Kraft an die Angehörigen
😭 Beileid an alle die es persönlich betrifft, und viel Kraft für alle die Augenzeugen seien mussten
Traurige Tatsachen was sich hier ereignete 😭🕯️
Ich hoffe von ganzen Herzen, dass unsere Regierung endlich munter wird und eine Notbremse ziehen wird
Eine solch traurige Geschichte was da passiert ist - mein Beileid an alle betroffenen
Beileid an alle Beteiligten 🙈🕯️